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Kritiken und Analysen zum Film

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Ray-Siegel
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Siodmak-Wise
 

Mani Ratnam: Nayakudu (Indien 1986)

Unbegrenzt-begrenzt, da es doch das Gesetz der Song-and-Dance-Sequenzen ist, dass in ihnen die Zeit – des Plots, des Lebens – aussetzt; ersetzt wird durch eine andere Zeit, die vergisst, was das ist: die Zeit. Zurückgeholt – aber nie vollständig – wird die Aus-Zeit nur durch den Fortgang, das Weitererzählen, das aber das Vergessen nicht vergessen, den unbegrenzten Moment nicht rückgängig macht.

Satyajit Ray: Aparajito (Indien 1956)

Die Einfachheit also dieser Bilder täuscht. Und was erzählt wird, ist gewiss universal nachvollziehbar und verliert sich doch nie im Klischee oder gar im Kitsch. Der Konflikt zwischen Liebesbedürfnis der Mutter und Verselbständigungswunsch des Sohnes bedarf keiner Erläuterung und Ray geht es um die Darstellung in der Konkretion: wie Apu müde aus Calcutta zurückkehrt, sich zum Schlaf abwendet, als die Mutter von ihrer Krankheit berichten will. Das Drama ist so beiläufig wie unabweisbar, wunderbar hält Ray dennoch die Balance zwischen Melancholie und Aufbruch, leise lässt er die zwei Leben auseinandergleiten: das eine in den Tod, das andere in die Zukunft.

Carol Reed: Der Dritte Mann

In seinem immer wieder durchscheinenden - und erfreulichen - Unernst bewegt sich der Film eher an den Rändern des film noir. Insbesondere die weibliche Hauptfigur fügt sich nicht ins eigentlich erforderliche femme-fatale-Muster. Ihre Motivationen bleiben unklar, sie bringt keinen der Männer zu Fall und weder schlägt sie sich ganz auf die Seite Harry Limes noch will die Zurückweisung von Holly Martins weiter dramatisch erscheinen. Strukturell ist die Figur bei genauer Betrachtung nicht notwendig, ist der Kreuzungspunkt reichlich unklarer Motivationen, Handlungsverzögerungen, mehr nicht.

Edgar Reitz: Mahlzeiten (D 1967)

Immer wieder bewegt sich „Mahlzeiten“ weg von der reinen Erzählung, hin zum Diskursiven, Parabelhaften, Über-Individuellen, verfremdet das Geschehen durch kontrapunktischen Musikeinsatz, durch herbe Schnitte, durch von den Figuren abschweifende Handkamera, durch den Off-Kommentar. Die stärkste Szene ist dann jedoch eine des konzentrierten Draufhaltens: mit grotesker Entschlossenheit begeht Paul Selbstmord, indem er, auf freiem Feld, die Abgase ins Innere seines Käfers leitet.

Jean Renoir: La Chienne

"Was sich zwischen den Personen entwickelt, sind Beziehungen, die buchstäblich oder metaphorisch ökonomischer Art sind. Manifest geht es um den Betrug am blauäugigen Legrand, der wiederum an seine geizige Frau gefesselt ist. Noch sein von dieser giftig bekämpfter Versuch, sich in der Malerei einen Freiraum zu schaffen, wird von Lulu, der damit ein Liebesdienst erwiesen werden soll, umstandslos ausgenutzt, die die Bilder über Dédé an einen Kunsthändler verkauft."

Jean Renoir: Boudu, aus dem Wasser gerettet

"Boudu lässt sich den Fluss hinab treiben, weg von der Gesellschaft, reißt sich an Land den Anzug vom Leib, wirft sich in die Lumpen einer am Wegesrand stehenden Vogelscheuche und sagt seinem Hut adieu. Der Rest der Festgesellschaft wird von Renoir zu einem Gruppenbild versammelt, die nasse Kleidung ist abgeworfen, paradiesische Nacktheit wird nur von Blättern und Pflanzen verhüllt. Was sich enthüllt, ist die soziale Natur des Menschen: mag sein, er kann aus seinen Kleidern, keinesfalls aber aus seiner Haut."

Jean Renoir: This Land is Mine (USA 1943)

Charles Laughton modelliert diese Figur vor den Augen des Betrachters, die aufgeworfene Lippe im Babygesicht, der Körper windet sich erst, dreht sich dann, das Publikum adressierend, von links nach rechts. Die auf Papier festgehaltenen Notizen werden überflüssig vor der Evidenz der Verfertigung eines Selbstbewusstseins, das sich nur der Wahrheit, die aus einem spricht, verdanken kann. Laughton beherrscht hier nicht die Kunst des Pathos, das einer existenziellen Situation abgewonnen wird, sondern er führt die sehr viel größere Kunst vor Augen, ein Pathos sich einstellen zu lassen in Stimme, Körper, Gesten einer Figur, die ihrer selbst erst zögerlich, dann immer bestimmter, gewiss wird, sich, dem, was aus ihr spricht, folgt, aus einer Notwendigkeit heraus, die im selben Augenblick erst erkannt wird.

Alain Resnais: Toute le mémoire du monde (F 1956)

Zur alles Schulfilmhafte von der ersten Sekunde an weniger Unterlaufende als Überschießende der Kamera in Bewegung - die im übrigen auch das Archiv als einen Ort ständiger Bewegtheit des Materials vom einen Ort zum anderen sichtbar werden lässt -, kommt die Musik von Maurice Jarre, deren kühl treibende Rhythmen eher einem Kriminalfilm zuzugehören scheinen als dieser Belebung eines Hauses, dieser Feier der Vollständigkeit, die in einer enggeführten Bewegung von Text und Bild die Tatsache, dass niemand wissen kann, was einst bedeutend sein wird und dass daher alles, und zwar ausnahmslos, gesammelt werden muss, demonstriert, indem sie eine der eleganten Kamerafahrten auf dem Close-Up eines zu verzettelnden Dick-Tracy-Comics enden lässt.

Celine und Julie fahren Boot (Regie: Jacques Rivette, Frankreich 1974)

"Die Magie der Fiktion: etwas erzeugen, da, wo nichts war. Also, magische Logik der Fiktion dieses Films, existiert dieses Haus. Konkretestes Sinnbild all der Hintergrundverschwörungen und Mysterien, die Rivettes Filme zu organisieren pflegen. Obwohl es eher in die Irre führt, von Organisation zu reden: es sind eher (meist vertrackte) Angebote der Sinnstiftung, Antäuschungen von Hand und Fuß, wo eigentlich das Prinzip der Improvisation herrscht, der unendlichen Möglichkeiten jeden Augenblicks, des Eintretens des Unerwartetsten. Die Logiken von Rivettes Filmen sind, wie die des Traums, strikt intern, parasitär natürlich an Zeichen und Erwartungen der Realität, aber nur weil es anders nicht geht. Eigentlich wird die Wirklichkeit neu erfunden, von Moment zu Moment, aus dem Konkretesten der Bilder von Paris, der Improvisationen der Darstellerinnen."

Nicolas Roeg: Walkabout (GB 1971)

Die Parallelen, der Konstrast, der Übergang zwischen Zivilisation und Wüste: reine Setzung. Die Kamera verharrt auf einer roten Ziegelmauer, fährt nach rechts, in den Blick kommt die Stadt, die Straße. Kurz darauf: dieselbe Mauer, dieselbe Fahrt, in den Blick kommt die Wüste. Darin der Volkswagen, der Vater, die Kinder. Out of nowhere beginnt er zu schießen, auf die Kinder, die fliehen.

Eric Rohmer: Die Bäckerei von Monceau (F 1962)

Dreierlei ist sogleich da: der Ort, wenige Straßen nur von Paris, in deren Kreis der Held sich bewegen wird, den Rest des Films. Der Held selbst, der durch diese Straßen läuft, mit der Kamera, umspielt von der Kamera, die ihm mit gelegentlichen Jump Cuts auf den Fersen bleibt, aber abrupt, interrupt, und eigene Wege geht, kaum die seines Blicks: auf die Schilder mit Straßennamen, Rue Legendre, Rue Lebouteux, Rue De Saussure. Und die Stimme, das Ich, nüchtern, hochmütig, wer spricht, ist der, der im Bild ist, dort aber zumeist schweigt.

Eric Rohmer: La Carrière de Suzanne (F 1963)

Die Ökonomie der Beziehungen ist eine verdeckte, was gesagt wird und was geschieht, kommt nicht überein, es gibt zuviele Worte, nicht zuletzt im Erzählerkommentar. Das Emblem für diese Verdeckungsverhältnisse findet der Film in einem Diebstahl: Guillaume oder Suzanne, einer von beiden, hat Bertrand 300 wohl versteckte Francs gestohlen. Das Geheimnis wird nicht aufgedeckt, in Bertrands Weigerung, Guillaume für den Täter zu halten, wird die Verzerrung der Wahrnehmung manifest.

Eric Rohmer: Die schöne Hochzeit (F 1982)

Eine junge Frau im Zug, die liest. Schnitt. Ein junger Mann im Zug, der schreibt. Schnitt. Das geht noch einmal so, dann steigt sie aus, bevor es zum Kontakt gekommen wäre. Ihre Geschichte wird erzählt werden, seine nicht. Sie werden sich wiederbegegnen, als wäre nichts gewesen, alles geht noch einmal von vorne los mit den ersten Blicken, die wir noch sehen werden: am Ende.

Roberto Rossellini: Reise nach Italien (Italien 1953)

Die "Reise in Italien" ist kein Road Movie, obwohl der Film mit einer Einstellung im Auto beginnt, in Bewegung. Er wird mit dem Ausstieg aus dem Auto enden, in einer Prozession, die das Auto stoppt. Dann geschieht aus heiterem Himmel ein Wunder, buchstäblich, wirklich, verstörend: ein Wunder. Einer kann wieder gehen, zwei können wieder lieben.

Bimal Roy: Madhumati (Indien 1958)

Kritik von Ekkehard Knörer

In selbst für indische Verhältnisse erstaunlicher Weise kommt hier zusammen, was nicht zusammenzugehören scheint. Die Beschwörung der Natur zwischen wie halluzinierten Gestalten. Der Künstlerroman, denn Anand ist ein großer Porträtist - und seine Bilder sind nicht zuletzt selbst schon geisterhafte Dopplungen der geliebten Madhu (später freilich: Bannung des teuflischen Ugrunarain). Die Liebe, die das Schicksal überwindet. Handfester Humor und, wenn sich das denken lässt, handfester Gespensterglaube.

Ousmane Sembene: Black Girl

"Black Girl bewegt sich zwischen individuellem Schicksal und Allegorie. In der Verhaltensmotivation der Beteiligten klafft manche Lücke, die gelegentlich allzu rasch durch ein bereitliegendes Klischee gefüllt wird. Allegorisch lesbar wird das im besten Falle partriarchalisch gutmütige, im schlimmsten skrupellos verächtliche Verhalten der Mutter Frankreich zur (ehemaligen) Kolonie."

Zhang Shichuan: Laborer's Love (aka als  Cheng, the Fruit Seller;  OT: Laogong aiqing; China 1922)

Chen baut eine Treppe um, und zwar so, dass die Stufen sich zur Rutschbahn klappen lassen. Und also klappt er. Die Menschen, die wir hinaufgehen sahen – zum Spiel am Tisch, an dem sie sich prügeln – purzeln sich zu Schaden, den der Doktor behebt. Und so belebt Chen das Geschäft, da kann ihm der Vater die Tochter nicht verwehren.

Hiroshi Shimizu: Mr. Shosuke San (Japan 1949)

Hiroshi Shimizus "Mr. Shosuke Ohara" ist ein Film über ein Haus so sehr wie über den Mann, der darin lebt. Ein Film über Ökonomie, der das Wort auf seine Wurzel - oikos - zurückführt, ein Film über Verausgabung gegen alle wirtschaftliche Vernunft. Zwei Medien dieser Verausgabung stehen gegeneinander: Geld und Sake. Die Sake-Wirtschaft kennt keine Vernunft und die Vernunft der Geldwirtschaft bleibt Shosuke-San gänzlich fremd.

Hiroshi Shimizu: Children of the Beehive (Japan 1948)

Es werden Bäume gefällt und die Kamera fällt mit den Bäumen. Nein, das stimmt nicht ganz: Sie verwandelt sich, neugierig, zärtlich, die Bewegung der fallenden Bäume an. Nicht Mimesis, sondern Lust an dieser Bewegung im Wissen darum, dass die eigene Bewegung eine andere ist. Es geht nicht um die Konstruktion eines Effekts im Schnitt (man denke an Riefenstahls Turmspringer), sondern um eine, mit Barthes gesprochen, Lust am Text, der das Bild ist. Das Bild mit erhabener Langsamkeit fallender, sich im Fallen beinahe schüttelnder Bäume. Es wird dies gezeigt, als sollte es niemals aufhören.

Hiroshi Shimizu: Ein Modellathlet (Japan 1937)

Von Stephane Boeuf

Zwei Rhythmen des Gehens treffen aufeinander: das Marschieren und das Vagabundieren. In einer langen Nacht wird der Konflikt zwischen ihnen eskalieren, der Konflikt zwischen den Sehnsüchten des Helden und seinen Pflichten, zwischen der Frau und dem Studententrupp, bis letzterer ihn erneut wachrüttelt, bevor er etwas erreicht hätte, so dass am folgenden Tag das Problem ungelöst hinter sich gelassen wird.

Hiroshi Shimizu: Die blinden Masseure und die Frau (Japan 1938)

Von Stephane Boeuf

Shimizus Helden finden kein Zusammen, weil die Rhythmen ihrer Lebenswege nicht synchron sind. Sie begegnen sich auf diesen Wegen – eingesperrt im strebsamen Marschieren oder im Umherirren des Ausgestoßenen – und fahren am Ende alle nacheinander wieder ab, wie sie gekommen sind. Die kurze Urlaubssaison hat ihr Ende gefunden. Es regnet.

Kaneto Shindo: Kuroneko (Japan 1968)

Der Kern der Geschichten von Geistern. Die Begegnung, die Überschreitung, die Verbindung, die Vermischung der Welten, das Lebende, das Untote. Der Samurai schläft mit dem Geist, der seine Frau ist. Das Glück ist erkauft, nur weiß er es nicht. Sie geht in die Hölle, der Preis der Vermischung ist Aufschub und im Aufschub zugleich die deutliche Scheidung der Sphären: Sie werden sich sieben Mal lieben, dann die Ewigkeit des Todes, der Hölle. Die junge Frau verlässt, ohne Wiederkehr, die abstrakte Welt des Theaters, des Films, des Waldes der Untoten. (Keine Erlösung.)

Masahiro Shinoda: Double Suicide (Japan 1969)

Der Beginn zeigt die Errichtung des Raums und das Hantieren mit den Bunraku-Puppen. Ein Stück wird gespielt werden, die Kamera bewegt sich neugierig, das Geschehen suchend, registrierend, durch die Welt, die ersteht, ein visuelles Gegenstück zum Stimmen der Instrumente vor dem Beginn des Konzerts. Dann aber erfolgt ein Schnitt hinaus – und in diesem Hinaus erst eröffnet der Film sich die Differenz zwischen Innen und Außen.

Nell Shipman & Bert Van Tuyle: Something New (USA 1920)

Eine Frau sitzt, in freier Natur, an einer Schreibmaschine. Sie ist Schriftstellerin vor weißem Papier, auf der Suche nach einer Geschichte, die noch nicht erzählt ist. Ins Auge fallen ihr zwei Männer, einer im Auto, einer auf dem Pferd, die ein Wettrennen beginnen. Heureka, das gibt ihr die Idee. Die Erzählung, die folgt, wird so gerahmt, das Auto bietet Gelegenheit für den entscheidenden neuen Dreh in einer alten Geschichte.

Don-Siegel-Seite

Ein Seitenstück von Jump Cut ist die dem Hollywood-Regisseur Don Siegel gewidmete Website. Hier finden Sie bio- und filmografische Informationen und vor allem Besprechungen zu den folgenden Filmen:

Die Dämonischen

Das Doppelgänger-Motiv, Muster existenziellen Schauders seit der Romantik und seit Poe, wird hier verschärft zur unmittelbaren Bedrohung durch das fastidentische Replikat. Kombiniert damit das Trauma, allein zu sein oder beinahe allein unter verständnislosen Fremden, selbst ein Fremder im Vertrauten - und im Kleinstädtischen der Heimatstadt ist das noch dazu bestens aufgehoben.

Dirty Harry

Die Stadt ist dabei nicht einfach nur Wildnis, sondern gerade: Zivilisation im Zustand ihres Rückfalls an Wildnis. Callahan versucht mit den Mitteln und mit dem Gesetz der Wildnis diese auszutreiben, und genau das ist unmöglich und wird zugleich als durchaus effizient dargestellt.

Der große Coup

Ökonomisch wie stets sprechen Schnitt und Komposition fast ausschließlich in Parataxen. Nüchtern, beinahe desinteressiert, folgt der Film Charley Varrick Schritt für Schritt, jede Annäherung ans Innenleben aber wird verweigert. Die vom Drehbuch vorgesehene Sentimentalität der Vorgeschichte erstickt sogleich in der Regungslosigkeit des echsengleichen Helden. In diesem Kontrast steckt der hauptsächliche Reiz des Films: noch die überraschendste List Varricks trifft auf äußerste Gleichmut, der Figur wie der Inszenierung.

Flucht von Alcatraz

Das bestimmende Moment des Lebens auf Alcatraz ist Kargheit: der Verpflegung, der Aktivitäten, der sozialen Beziehungen, die im wesentlichen nach dem Freund/Feind-Schema geordnet werden, sogar so sehr, daß Rassenvorurteile innerhalb dieses Raums suspendiert sind.

Madigan

Oder die Episode mit dem heruntergekommenen Ex-Boxer, der Madigan nur ruft, weil er mal wieder mit einem Menschen reden will. Und Madigan, der, obwohl unter Zeitdruck gesetzt, nicht wütend wird, sondern dem Kerl, der ihn in die Irre geführt hat, einen Schnaps ausgibt, trotz allem. Die Fremde in Hollywood, ein Vorgeschmack auf New Hollywood, aber im Genremantel. Man wird von Siegel gelernt haben können. Und zwar nur Gutes.

(Weitere besprochene Filme von Don Siegel:

Frank Patch - Deine Stunden sind gezählt

Flammender Stern

Strich durch die Rechnung

Schüsse in Neu-Mexiko)

Robert Siodmak: Die Wendeltreppe

 Die Szene des Films, die erste ganz explizit, aber im Grunde die ganze, ist: das Kino. Ein Stummfilm wird gezeigt, Titel: der Kuss, die Kamera zeigt in Großaufnahme, affektgeschüttelt, Helen, die Heldin des Films, stößt den Betrachter mit den Augen auf seine Identifikationsfigur. Im Off, ob-szön, zeigt der Film, der natürlich kein Theater ist, dem keine Szene fremd sein will, wie ein Mord geschieht. Falsch. Wir sehen nicht den Mord, wir sehen das Opfer, wir sehen es mit den Augen des Täters und wir sehen: die Augen des Täters.

Ramesh Sippy: Sholay (Indien 1975)

Zwei Tonlagen kennt der Film, den Western einerseits, die Liebeskomödie zum anderen, und eine dritte Ebene, auf der sich beides mischen kann: die reine Action. Ramesh Sippy ist ein Regisseur der rasenden Bewegung in ungewöhnlichen Gefährten. Auf den Eisenbahnüberfall folgt der erste große Freundschaftssong im Motorrad mit Beiwagen; der fahrbare Untersatz taugt, mit seiner schönsten Pointe: der Beiwagen macht sich erst selbständig, kehrt dann, ebenso selbständig wieder zurück, zur Freundschaftsmetapher.

Douglas Sirk: All That Heaven Allows (Was der Himmel erlaubt, USA 1956)

Kritik von Ekkehard Knörer

Das Gesetz von "All That Heaven Allows" ist nicht der Exzess. Ein Melodram der einfachen Form und vielleicht deshalb das Muster mit Wert für zwei Remakes, die sich eher in das Vorbild einschreiben als es zu reproduzieren.

Victor Sjöström: The Outlaw and his Wife (Schweden 1919)

In der Einsamkeit der Berge - die Stimmungen wechseln mit den unterschiedlichen Einfärbungen der Bilder - ersteht aus der Natur und gegen sie eine neue Gemeinschaft: ein Kind wird geboren, ein neuer Alltag stellt sich ein, die Frau wäscht, der Mann jagt.

Jerzy Skolimowski: Shout - Der Todesschrei (GB 1979)

Dreierlei: Englische Provinz, Aborigine-Mythen und elektronische Musik. Im Kreuzungspunkt liegt "Shout", der Film des Polen Jerzy Skolimowski. Das Britische ist verfremdet, in Richtung Wahnsinn. Das Cricket-Spiel unter Irren. Tim Curry wird zum Zeugen einer bizarren Veranstaltung und einer irren Geschichte, er vertritt, so viel wird man sagen dürfen, den Zuschauer und kommt, am Ende, mit knapper Not davon.

Preston Sturges: Der große McGinty (USA 1940)

Der Geschichte vom Aufstieg ist die einer Bekehrung eingetragen, die - natürlich - zum Sturz führen wird und in die Bar und die Bananenrepublik. Zynisch erst heiratet McGinty die erste beste, zur besseren Außendarstellung; die aber liebt ihn und lehrt ihn lieben: sie. Mit ihrer Hilfe entdeckt er sein Herz für die Armen, damit ist's aus.

Preston Sturges: The Lady Eve (USA 1941)

"Are Snakes Necessary?" lautet der intrigierende Titel des Buchs, das der Amazonasfahrer, an jeder Form von Bier komplett desinteressierte Ale-Erbe und Schlangenexperte Charles Pike - von allen Instanzen unkommentiert – liest, während ihn die weibliche Welt im Salon des Schiffs umzingelt und umzüngelt. Wenn nicht nötig, dann doch immerhin unvermeidlich, könnte man sagen.

Seijun Suzuki: Abrechnung in Toko (1966)

Das Genre wie der Plot sind kaum mehr als Hintergrund in Tokyo Drifter, verschwinden hinter der furios stilisierten Oberfläche der Bilder. Das Topische treibt Blüten, hinter deren Buntheit die Geschichte zum Vorwand zusammenschrumpft. Der Film ist beinahe reine Manier, verliebt in die Ausmalung, nicht in den Zusammenhang, den sie zum Stoff vielleicht hat. Das Yakuza-Genre löst sich vor den Augen des Betrachters auf in Pop-Art-Variationen. Die Figuren verschwinden im Bild, die Frontverläufe im Farbzusammenspiel von Vorder- und Hintergründen.

Jacques Tati: Mon Oncle (F/I 1958)

Das steht in "Mon Oncle" gegeneinander wie ein Prinzip gegen das andere: das moderne Frankreich und das alte. Erdtöne, Natur, das krumme Haus, der Vogel, der zwitschert, wenn das Licht auf ihn fällt. Der Fisch, im Garten des Schwagers, in dem das Krumme des Weges nur eine Idee von mangelnder Funktionalität ist (und fehl am Platz wie alles hier, selbst beim Schein der vollendeten Funktionalität), der Fisch speit seinen Wasserstrahl in die Höhe nur als Reaktion auf die mechanische Bewegung des Schalters.

Goldenes Gift/Out of the Past (Jacques Tourneur, USA 1947)

Twists & Turns. Ein Mann der von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Der Frau, die er liebt, erzählt er von der Vergangenheit mit einer Frau, die er liebte. Einer Frau, die zu fangen er beauftragt war. Er findet sie in Mexiko, verliebt sich in sie. Das Café, in dem sie erscheint, das Café, in dem er auf sie wartet. Im Dunkeln am Strand, Fischernetze, ein Kuss, das Meer. Regen, sie fliehen in ihr Haus, er wirft das Handtuch auf die Lampe, die Kamera schwenkt auf die Tür, die nach innen schlägt im Sturm.

Experiment Perilous (Jacques Tourneur, USA 1942)

Wasser, das Bahngleise zu unterspülen droht - das erste Bild. Wasser, sehr viel später, das sich aus Aquarien ergießt. Und ins Wasser geht der Vater, der fehlt in einer Geschichte, der es, auch, um Vaterschaften geht, unsichere natürlich. Eine Finte, zuletzt, der Selbstmord des Mannes, der keinen Vater hat und stattdessen im Feuer stirbt, in das sich das Wasser der Aquarien ergießt. Eine glatte Oberfläche, Wasser, in der sich das Gesicht Allidas spiegelt, sie zerstört, mit ihrer Hand, den Spiegel, das Gesicht, von dessen Schönheit die Rede ist, beinahe von nichts anderem, könnte man sagen, in Tourneurs "Experiment Perilous".

Jacques Tourneur: The Leopard Man (USA 1943)

Der Leopard entläuft aus der Komödie und taucht aus dem Schatten des Horrorfilms, in dem er verschwindet, nicht wieder auf. Der Leopard ist das Latente schlechthin. Der Whodunit-Plot, die Leiche des Tieres, der Mörder, all das nichts als ein manifester Rest, genauer: das Resthafte, auf das bei Tourneur das Manifeste reduziert wird.

Lars von Trier: The Element of Crime (Dk 1984)

Geträumtes Ägypten, geträumtes Europa. Filter, Wasser, Gelb. Namen von Städten: Halbestadt, Halle, Friedingen. Namen, die Stimme des Therapeuten, die Fragen stellt, Fishers Stimme, die antwortet. Schichten, Fäden. Übereinander, durcheinander. Verlorene Fäden - wohin etwa verliert sich das Schicksal des Mädchens, das als Köder im Glashaus sitzt, eine Dürrenmatt-Reminiszenz.

Douglas Trumbull: Silent Running (USA 1972)

Regisseur Trumbull, als Special-Effects-Designer erfolgreich von Kubricks "2001" bis zur Heraufkunft der digitalen Effekte, nähert sich in der Langsam- und Ziellosigkeit seines Erzählens, in der Exzentrizität seines Helden, der wunderbaren Relaxtheit von New-Hollywood-Außenseitern wie Monte Hellman. "Silent Running" ist ein Moment der Ruhe vor dem Sturm, der mit "Star Wars" hereinbrechen und die allemal bizarren Außenseiter der frühen siebziger Jahre aus den Hollywood-Studios fegen sollte.

Tomu Uchida: The Mad Fox (Japan 1962)

Die Kamera fährt eine Schriftrolle entlang, die von der Vorgeschichte erzählt. Die Stimme aus dem Off berichtet, was man dann auch erkennen kann, die Bilder, die von rechts nach links abgefahren werden, fügen sich zur chronologischen Folge eines Geschehens. Ein junger Mann sucht und findet in der japanischen Provinz eine Tochter für den großen Wahrsager, der im Realen des Spielfilms (ha, als gäbe es das hier) bald stirbt.

Edgar G. Ulmer: Ruthless (1948)

Im Hin und Her von Vergangenem und Vergangenes aufrufender, verhandelnder, wiederholender und zuspitzender Gegenwart wird schlagartik klar: Martha, die verschwunden ist, ist wiedergekehrt. Mallory ist Martha, ein atemberaubender Besetzungscoup. Buchstäblich, allem Realismus zum Hohn: Es geht um dieselbe Frau, es geht um die Wiederholung, die Entscheidung.

Agnes Varda: Le Bonheur

"Das Atemberaubende an Le Bonheur ist, dass einem der Film jedes Fundament, von dem aus man werten, erklären, begreifen könnte, was da geschieht, entzieht. Man kann nicht mitfühlen, mitleiden, sich nicht identifizieren, aber auch nicht verabscheuen. Der Film ist reine, perfekte Zweidimensionalität, schmerzhaft schön, ohne jede Tiefe, pure Oberfläche, deren Komposition und Rekomposition alles ist, was man an Anhaltspunkten bekommt."
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Agnes Varda: Cleo von 5 bis 7

"Der Film beginnt damit, dass er Cléo die Karten legt. In Farbe führt er dem Zuschauer ihr mögliches Schicksal vor Augen, man sieht in den Anfangseinstellungen, über die noch die Credits laufen, von oben den Tisch, die Bewegung der Hände der Kartenlegerin und Cleos. Als der Gehängte und der Sensenmann aufgedeckt werden, weiß man, was die Stunde geschlagen hat: Cleo ist ihr baldiger Tod geweissagt. Gewissheit über die Krebsdiagnose wird sie im Laufe der (titelgebenden) fast zwei Stunden, in denen die Kamera sie keine Minute aus den Augen lassen wird, erlangen."

Kino-Glaz (Dziga Vertov, SU 1925)

Die schiere Lust am Schauen verbindet sich mit der faszinierten Einsicht in die Zerlegbarkeit der Ablaufslinearität in den Bildern vom Turmspringen, die Riefenstahl zu antizipieren scheinen. Nur dass Riefenstahl auf Naturalisierungen aus ist (die ihr ideologisch bis heute Schönheit heißen); Vertov will das Gegenteil.

Charles Vidor: Gilda (USA 1946)

Der Film, der Rita Hayworth zur Ikone machte.

"Die Wendungen, die Gilda nimmt, sind wild. Das Tempo ist hoch, die Geschichte ist zusammen geschustert aus Ideen, die in sich wirkungsvoll sind, in Steigerungs-, nicht unbedingt in Plausibilisierungszusammenhängen mit vorhergehenden und nachfolgenden Elementen des Films stehen. Das ist kein Mangel, es handelt sich um eine Kunst. Nicht der Zurückhaltung, nicht der Konsequenz, sondern der Übersteigerung."

King Vidor: Duell in der Sonne (USA 1946)

Seltsame Dialektik dieses Film: das - trotz King Vidors ersichtlichem Können, von diesem noch einmal interessant konterkarierten - so sagenhaft Misslungene, die Kluft zwischen Anspruch und Realität, die Unmöglichkeit auch, über das Misslungene hinwegzusehen, machen gerade den Reiz des Films aus, der eine der sehenswertesten ästhetischen Katastrophen der Filmgeschichte ist. Und eines in jedem Fall: ein Film wie kein anderer.

Homi Wadia: Miss Frontier Mail (Indien 1936)

Inszeniert ist der Film mit einer Unbekümmertheit, einem Vorwärtsdrang, die seiner Heldin in nichts nachstehen. Um die rasanten Verfolgungs- und Kampfszenen noch rasanter zu machen, hat man sie leicht zeitgerafft. Keine auf dem Weg liegende komische Nummer wird ausgelassen, nie jedoch gehen sie auf Kosten der Heldin, bei deren Kampfesmut und Körperkraft jeder Feministin das Herz im Leibe lachen muss.

Andrzej Wajda: Asche und Diamant (Polen 1958)

Darstellung des individuell Allzumenschlichen trifft auf tiefere Bedeutung, historische Fakten begegnen entschiedenem Kunstwillen in der Gestaltung. Alles in allem gelingt diese Balance zwischen Realismus und existenzialistischer Hintergrundbeleuchtung, nicht zuletzt weil die düstere Atmosphäre, erst recht im Kontext von Liebe und Mord, durchaus an den Film Noir erinnert.

Raoul Walsh: Dark Command (USA 1940)

Die Kamera wechselt von Großaufnahmen der Gesichter der Sprechenden in den Rücken des Volks. Der eine, Cantrell, preist sich als Mann der Schrift und des Worts und mischt in die Bewerbung unüberhörbar den Spott über den illiteraten Konkurrenten. Der gibt sich als Mann der Tat und des Witzes. Als Mann also des Volks, das ihn liebt und prompt wählt.

Walt Disney's Fantasia (USA 1940)

Dass man dürfen darf, was Disney wagte, nämlich Herzstücke des klassischen Repertoires mit Animationen zu illustrieren, das wird heute kaum noch einer bestreiten. Ob man das Unternehmen für gelungen hält, ist nur noch eine Sache des Geschmacks - und je nachdem, wie man zu Kitsch und Ernst, zu Experiment und Spielerei steht, wird man an der einen Episode mehr, an der anderen weniger Freude haben.

Orson Welles: F wie Fälschung

"Orson Welles hat sich einen Dokumentarfilm vorgenommen über den Kunstfälscher Elmyr, der weitere hundert Namen trägt, und hat ihn, man kann es nicht anders sagen, einer sagenhaft gründlichen Dekonstruktion unterzogen. Die Wirklichkeit, die einst, mit Aufnahmen von der Insel Ibiza, hineingesteckt und vom Filmer Francois Reichenbach auf Zelluloid gebannt wurde, kommt, nach Schnittbearbeitung, Kommentierung, Montage von Orson Welles als Essay am Ende wieder heraus, der einen noch am flüchtigsten Dokumentargehalt des Dargestellten zweifeln lässt. Dabei ist ja alles wahr, vermutlich. "
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Orson Welles: Die Lady von Shanghai

"Mit den Dingen, auf die Orson Welles in Die Lady von Shanghai pfeift, bestreiten andere Regisseure ganze Lebenswerke. In erster Linie: Kohärenz, dreiaktige Wohlgeordnetheit, Psychologie .

Orson Welles: The Stranger (USA 1946)

Konzentration auf wenige Schauplätze und Figuren, die Typen sind. Der Laden, dessen Besitzer obsessiv Dame spielt, mit dem Jäger wie dem Gejagten - und man könnte darüber nachdenken, warum es Dame ist, nicht Schach. Wo es doch darum geht, einen König in die Enge zu treiben. Einen König der Finsternis, den Welles mit einem Understatement spielt, das nicht anders denn übertrieben zu nennen ist. Wie in der Miene, die einer nicht verzieht, das Pathos liegen kann. Man könnte, wenn man wollte, sagen, dass die Anlage der Geschichte nach Schach strebt und Dame bleibt.

Bis das Blut gefriert / The Haunting (GB 1963, Robert Wise)

Das Begehren, als rein Imaginäres, treibt die vier Bewohner des Hauses zueinander, gegeneinander, der Ausweg der Erfüllung aber bleibt ausnahmslos verstellt. Der Kreis nämlich, des Trachtens auf den anderen, schließt sich in verblüffender Manier. Luke, der Theodora, Theodora, die Eleanor, Eleanor, die Dr. Markway begehrt. Der aber ist, ohne Liebe oder Verständnis zu finden, verheiratet mit Grace, die, als sie erscheint, ein Ende herbeiführt, das zwischen Zerstörung und Erlösung unauflösbar oszilliert.

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